Im Gegensatz zu meinen Kindern bin ich völlig deutsch aufgewachsen: Zwar bin ich nicht in Deutschland geboren, aber doch sind meine Eltern komplett deutscher Abstammung und ich war bis zum 19. Lebensjahr nie länger als 4 Wochen im Ausland. Auch dort habe ich zumeist deutsch gesprochen. Alle längeren Auslandsaufenthalte waren erst später.
In den letzten 15 Jahren in Afrika habe ich dann festgestellt, wie deutsch ich bin. Natürlich werden hier wieder mit den berühmten Klischees konfrontiert, aber werden wir einfach mal persönlich und konkret, dann geht es besser. Folgende Themen machen für mich mein Deutschsein aus:
Thema Zeit und Pünktlichkeit
Auch wenn ich weiß, dass ich nicht pünktlich sein muss, bin ich es. Zeit ist immer in meinem Kopf. Ich bin immer zeitorientiert, auch wenn ich versuche, mich ereignisorientiert zu geben. Der Unterschied ist in der Theorie ziemlich einfach: Die meisten Europäer orientieren sich an ihrer Uhr, was die Abfolge des Tages angeht, was man so macht, welche Prioritäten man setzt. Man macht zum Beispiel fast immer um dieselbe Uhrzeit Mittagspause.
Die meisten Afrikaner (und auch Lateinamerikaner so wie viele Asiaten) orientieren sich an Ereignissen, was gerade passiert, was gerade dran ist: Kann ich jetzt Pause machen oder ist gerade was wichtiges los? Wenn die Schwester Hilfe braucht, mache ich das jetzt, egal ob ich gerade einen Termin habe oder für meine Firma arbeiten müssten, ob was anderes wichtiger sein könnte oder ich was anderes vor hatte: Die Anfrage geht vor.
Seit 15 Jahren arbeite ich eindeutig in einer Kultur, die sich an Ereignissen orientiert. Mein Kopf tut das nicht.
Thema Kommunikation und Direktheit
Ich bin schon für deutsche Verhältnisse relativ direkt, sage direkt meine Meinung und muss aufpassen, dabei niemanden zu beleidigen. Das passt nach Afrika überhaupt nicht. Man ist erst mal ganz neutral: Auf die Frage „wie geht’s“, die ich immer stellen muss, wird immer „gut“ geantwortet. Ich hab am Anfang meiner Zeit, relativ häufig die Frage korrekt beantwortet und gesagt: so lala, mittelmäßig oder schlecht. Das kam häufig witzig bis positiv rüber, ist aber völlig unüblich. Irgendwann stellte ich fest, dass ich so nicht antworten sollte. Danach habe ich nur noch absichtlich im Spaß anders reagiert, wenn ich sicher sein konnte, dass es passt und jeder der Anwesenden versteht.
Auch mit Kollegen oder Mitarbeitern habe ich immer Schwierigkeiten, indirekt zu sagen, was gesagt werden muss. Geht es nur um Informationen, ist die Sache einfach. Aber bei kritischem Nachfragen ist es schon sehr schwierig: Gesichtsverlust muss unbedingt vermieden werden. Da kann man viel falsch machen. Im Notfall, wenn der Konflikt größer wird, muss ein Mediator, ein Vermittler eingeschaltet werden. Häufig ist das auch für kleinere Sachen eine Hilfe: Beide Seiten haben häufig kein Problem, mit dem Vermittler ehrlich zu sein. Allerdings dauert der Prozess wesentlich länger und wenn es schneller gehen muss, kann die Versuchung groß sein, den Konflikt zu beschleunigen und damit zu verstärken.
Thema Effizienz und Leistung
Deutsche sehen Effizienz als ein Muss an. Die Arbeit muss gut aber auch schnell erledigt werden, sonst ist sie nicht wirklich gut. Zu langsam geht gar nicht. Leistung ist gewollt und nötig.
Das ist hier völlig anders: Man arbeitet, was bearbeitet werden muss und dann reicht es auch. Wir haben einen Angestellten in der Firma, der ungefähr ein Drittel von dem leistet, was gefragt ist. Sehr gut zwar, aber halt nur wenig. Das ist ein großes Problem für mich und die Versuchung, ihn zu entlassen, ist verlockend. Allerdings muss man das in Relation zur Kultur sehen: Es ist normal, dass nur das Nötigste getan wird, danach kommen Café und Rumsitzen – aus deutscher Perspektive.
Hier werden die Männer oft „Mauerhalter“ genannt, die ohne Grund irgendwo rumstehen und sich meist an irgendwelche Mauern anlehnen und nichts tun. Sie halten die Mauer fest, wird scherzhaft gesagt … Daran muss man sich erst gewöhnen. Ich weiß noch, wie ich am Anfang nicht zum Frisör wollte, weil der immer voll war. Als ich dann irgendwann wirklich die Haare geschnitten haben musste, war ich sofort dran: Alle anderen im Laden waren nur Mauerhalter oder Sitzwärmer, Freunde, die sich einfach unterhielten. Haare geschnitten haben wollte keiner.
„Nutze die Zeit aus“ wird in Europa viel zitiert. Hier ist der Satz nicht angekommen. Effizienz ist nicht nötig. Sie wird zwar akzeptiert und gut geheißen, das heißt aber nicht, dass man danach streben muss.
Thema Ängstlichkeit und Panikmache
In Afrika aber auch in Nordafrika gibt es viele Gründe, sich Sorgen zu machen: Die Regierungen arbeiten nur bedingt für die Menschen, meist eher für sich. Institutionen behindern eher als dass sie fördern. Sozialhilfe gibt es selten vom Staat, manchmal von Vereinen, sonst von der Familie. Und wenn die nicht kann, hat man verloren.
In Deutschland sieht das alles viel besser aus. Klar, es gibt Probleme, aber wenn die Deutschen meckern und mosern, dann doch auf sehr hohem Niveau. Wenn jemand Hilfe braucht, kann er diese auch finden. Trotzdem machen sich viele Gedanken darüber, wie es weiter geht, ob die Welt morgen noch steht und wie wir dem begegnen können.
Das hat auch viele Vorteile: Deutsche denken voraus, planen weit im Voraus und können die Dinge dann angehen, wenn sie kommen, weil sie vorbereitet sind. Ich bin immer wieder erstaunt, dass selbst so logische Dinge wie die Wartung eines Autos in Afrika nicht stattfindet. Man repariert, wenn etwas kaputt ist. Dass man die Reparatur vielleicht hätte vermeiden können, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Allerdings kommt einem auf Distanz die Berichterstattung der deutschen Medien wie Schwarzmalerei vor. Das ist nicht Vorausschau sondern häufig mehr Problematisieren. Nach dem Motto: Wenn man wenig Probleme hat, kann man sich ja welche machen. Und das färbt dann ab. Ich hab gelernt, dass ich als Deutscher immer zuerst die möglichen negativen Seiten eines Projekts sehe, auch wenn ich die Herausforderung grundsätzlich positiv sehe und gerne annehme.
In zwei Wochen kommen wir nach Deutschland zurück – für länger. Das heißt, demnächst kann diese Reihe von der anderen Seite betrachtet werden: Was war positiv in Afrika? Wo ist Deutschland super und wo weniger? Und wo haben wir wirklich was gelernt?